"Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern es ist unser Bild von den Dingen."
- Epiktet (50-138 n.Chr.) griechischer Philosoph und Stoiker.
Wir gehen oft davon aus, dass das, was wir denken, der Realität entspricht - was es tut, aber eben nur unserer eigenen ganz individuellen Realität. Dinge können für uns persönlich eine immense Bedeutung haben - und für andere komplett wertlos und überhaupt nicht erwähnenswert sein. Das gilt für materielle Dinge aber auch für diverse Situationen, für Einstellungen, Erfahrungen und Beziehungen.
Der Ursprung aller Konflikte
In unseren Beziehungen, ob sie romantisch, freundschaftlich oder beruflich sind, stoßen wir immer wieder auf Konflikte. Dies liegt daran, dass wir oft eine andere Bewertungen von der Situationen haben, als die Person mit der wir in Kontakt stehen. Diese Bewertungen basieren auf dem, was wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben und wie wir “programmiert” sind.
Wie beeinflusst mein Umfeld meine Realität?
Unser Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, spielt dabei eine große Rolle. In welchem Land und welcher Kultur sind wir aufgewachsen? Wer hat uns großgezogen? Was wurde als "normal" angesehen und was als "nicht normal"? Was "macht man" und was "macht man nicht"? All diese Faktoren beeinflussen, was wir heute als wichtig oder unwichtig ansehen oder eben als gut oder schlecht. Wie hat man sich anderen gegenüber zu verhalten? Wem kann man vertrauen und wem nicht?

Auch die Namen und Bezeichnungen, die wir Dingen geben, spielen eine Rolle in unserer individuellen Wahrnehmung. Wir haben festgelegt, dass das Tier mit den Ohren, vier Beinen und dem Fell ein “Hund” ist, dass die Wellenlänge von ca. 550 nm “grün” heißt und dass Scheine und Münzen “Geld” sind und einem bestimmten Wert zugeordnet werden. Manche Dinge davon sind neutral in ihrer Bezeichnung aber viele auch nicht. Schon das Wort “Geld” kann zum Beispiel bei manchen Menschen ein positives und bei anderen ein negatives Gefühl auslösen, das bedeutet auch Begriffe und Wörter in unserem Alltag sind entweder positiv oder negativ konnotiert, je nachdem welcher Bedeutung wir den Dingen (unbewusst) zusprechen, was wiederum von unserer Erfahrung abhängt.
Die abgesprochene Wirklichkeit - die Grundlage des Zusammenlebens

Es ist außerdem wichtig zu verstehen, dass all dieDinge, an die wir glauben, einer Realität entspricht, die wir selbst geschaffen haben. Nichts davon ist absolut. Es gibt eine Realität, auf die wir uns geeinigt haben, wie z.B. unsere Gesetze oder Geld als Zahlungsmittel.
Innerhalb dieser abgesprochenen Wirklichkeit haben wir auch unsere eigenen individuellen Regeln, Normen und Bewertungen, die auf unserem Umfeld und unseren eigenen Erfahrungen basieren. Die abgesprochene Wirklichkeit ist absolut essenziell, um ein Zusammenleben in so einem komplexen System erst zu ermöglichen. Unsere eigene Realität wiederum bestimmt, ob wir eine Situation als nervig, freudig, ängstlich, aufregend oder voller Vorfreude begegnen.
Wer mehr zu der geschaffenen Realität lesen will und tiefer in die philosophischen aber auch historischen Aspekte abtauchen möchte, dem empfehle ich das Buch "Eine kurze Geschichte der Menschheit" von Yuval Noah Harari.
Es ist wichtig anzuerkennen, dass unsere Wahrnehmungen UNSERE persönlichen Wahrnehmungen sind und dass uns bewusst wird, dass wir permanent unsere subjektive Sicht auf die objektive Realität projizieren. Wir sind subjektive Wesen und unser Denken und unsere Erfahrungen sind immer eine subjektive Interpretation der objektiven Realität.
Nichts was ich sehe, hat eine Bedeutung. Ich gebe den Dingen ihre Bedeutung.
Wann wir unsere Bewertungen hinterfragen sollten
Problematisch wird es, wenn wir merken, dass wir in unseren Beziehungen immer wieder an den gleichen Punkten scheitern.
Wenn wir uns immer wieder mit unseren Kindern, Partnern, Eltern, Freunden oder Kollegen streiten oder
wenn wir uns in unserem Leben insgesamt nicht voran bewegen.
Wenn wir uns immer über die gleichen Dinge aufregen,
immer von den gleichen Dingen stressen lassen oder
durch die gleichen Situationen aus der Ruhe geraten.
In diesen Fällen kann es hilfreich sein, uns mit unseren Bewertungen und unserem Mindset auseinandersetzen und uns bewusst zu machen, dass sie subjektiv sind und sich auch ändern lassen.
Wie können wir unsere Bewertung verändern?
Um eine positive Veränderung in unserem Leben und in unseren Beziehungen zu erreichen, sollten wir uns bewusst mit unseren Bewertungen auseinandersetzen. Dabei hilft folgendes Modell:
Das ABC Modell
Eine sehr simple Darstellung dafür, wie die Bedeutung, die wir den Dingen geben, unser Verhalten und unsere Emotionen beeinflusst, ist das ABC Modell.
A → B → C
A ist der Auslöser
B ist die Bewertung
C ist die Konsequenz (Emotion, Verhalten, Erfahrung)

Ein Auslöser, beispielsweise das Zuspätkommen des Zugs führt zu deiner Bewertung der Situation, im Normalfall unbewusst. Diese Bewertung wiederum führt zu einer Konsequenz, das kann beispielsweise eine Handlung sein, eine Emotion oder auch ein körperliches Empfinden.
Diese Bewertung des Zuspätkommens könnte jetzt lauten
Oh echt jetzt? Das kann doch nicht schon wieder sein! Wieso muss mir das denn immer wieder passieren!
Nur weil ich zu faul war früher aufzustehen, das war so klar, dass das jetzt auch noch passiert! Was denken jetzt alle, wenn ich schon wieder zu spät komme?
Toll! Was soll ich jetzt hier die nächsten 30min an diesem gottverlassenen Bahnhof bitte machen? Danke Bahn!
oder
Das kommt echt gar nicht schlecht gerade, vielleicht kann ich mir da vorne bei dem Kiosk noch schnell was zu Essen kaufen, dann habe ich das schon mal erledigt.
Naja. Lese ich mein Buch weiter weiter.
Auch nicht schlecht, vielleicht kann ich mich dort drüben rein setzten und noch mal kurz die Präsentation durch gehen.
Auch gut. Kurze Ruhepause.

Hast du gemerkt, wie den unterschiedlichen Gedankengängen verschiedene Perspektiven und Einstellungen zu Grunde liegen? Die oberen Möglichkeiten betrachten die Situation, dass die Bahn 30min später kommt als angekündigt, als etwas negatives. Die unteren Möglichkeiten sehen die Verspätung als eine Möglichkeit für etwas positives.
Das hier sind nur Beispiele. Es gibt in jeder Situation hunderte Möglichkeiten etwas zu betrachten und das ist der Kern des ABC Modells. Der Auslöser (A) lässt sich manchmal nicht verändern, was wir aber immer beeinflussen können ist die Bewertung (B).
Durch Veränderung der Bewertung (B) verändern wir Konsequenz (C), also wie wir uns fühlen und verhalten.
Die Praxis der Achtsamkeit

Ich weiß, dass das besonders in unserer heutigen Welt, die voller Ablenkungen und Reize ist, nicht einfach ist. Wenn jemand beispielsweise laut Musik hört oder laut in der Bahn telefoniert, kann das bei vielen Menschen ein Gefühl der Genervtheit auslösen und automatisch eine Bewertung des anderen Menschen als rücksichtslos und nervig auslösen. Aber es ist wichtig zu erkennen, dass diese negative Bewertung vor allem negative Auswirkungen auf dich hat und nicht auf die andere Person (wir sind genervt, nicht die andere Person).
Eine Möglichkeit, unsere Bewertungen und dadurch unser Mindset zu verändern, ist die Praxis der Achtsamkeit. Durch die MBSR-Praxis (Mindfulness Based Stress Reduction) lernen wir, Dinge ohne Bewertung wahrzunehmen. In der Praxis der Achtsamkeit geht es darum, diese Bewertungen loszulassen und stattdessen bewusst unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, Dinge zu benennen, wie z.B. Musik, Stimme, Hupe oder einfach Geräusch. Durch diese Übung ändert sich die Reaktion und es kann zu einer größeren Entspannung und Zufriedenheit führen. Eine schöne Übung dafür ist es, immer wieder eine kleine Achtsamkeitspause einzubauen
Hier sind zwei Möglichkeiten für so eine Achtsamkeitspause:
MÖGLICHKEIT 1: Augen schließen und ohne jegliche Bewertung die Dinge benennen, die du hörst. Beispielsweise: "Stimme", "Wind" oder einfach "Geräusche"
MÖGLICHKEIT 2: Beim nächsten Spaziergang oder Weg zur Arbeit wertungsfrei benennen, was die begegnet: "Person", "Auto", "Baum", usw.
Du hast es in der Hand
Unser Mindset und die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, beeinflussen unsere Zufriedenheit und Beziehungen. Es ist wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass unsere Bewertungen und Wahrnehmungen subjektiv und nicht absolut sind. Durch die Praxis der Achtsamkeit und das Loslassen von Bewertungen können wir uns von festgefahrenen Konflikten befreien und unsere Beziehungen und unser Leben insgesamt Schritt für Schritt verbessern.
Eine wertfreie Wahrnehmung zu trainieren kann helfen, negative Emotionen und Gedanken zu überwinden und mehr Entspannung und Zufriedenheit in Situationen zu finden, an denen wir nichts ändern können. Experimentiere mit verschiedenen Techniken, wie dem Benennen von Dingen im Kopf, um deine eigenen Bewertungen und Reaktionen bewusst zu reflektieren und zu verändern. Versuche dich beim nächsten Konflikt daran zu erinnern, dass dein Gegenüber sehr wahrscheinlich andere Erfahrungen gemacht als du, auch wenn du anderer Meinung bist, zeige Empathie und bleibe offen. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir verstanden werden, gehen wir viel eher Kompromisse ein, als wenn wir uns abgelehnt und vor den Kopf gestoßen fühlen.